Wissenschaftlicher Aufsatz aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Politik - Region: Russland, Note: sehr gut, Humboldt-Universität zu Berlin, Sprache: Deutsch, Abstract: Die nachhaltig von Jürgen Habermas geprägte These, eine Etablierung freiheitlich-demokratischer Gesellschaften könne vornehmlich über die Einführung demokratischer Verfassungen erfolgen, ist durch den empirischen Befund nicht zu bestätigen. Von den hundert Staaten der "Dritten Welle", dem von Samuel P. Huntington beschriebenen Siegeszug der Demokratie, sind lediglich zwanzig, darunter die heute zur EU gehörigen postsozialistischen Staaten, Chile, Taiwan und Süd Korea, auf dem Wege zu konsolidierten demokratischen Ordnungen. Der Rest bleibe nach Thomas Carothers in einer Grauzone zwischen Diktatur und Demokratie gefangen.
Auch Russland fügt sich mit der unter Präsident Putin formulierten "gelenkten Demokratie" in diese Grauzone ein. Trotz der Verankerung einer freien Marktwirtschaft und formaler demokratischer Institutionen haben die zentralistischen und autoritären Tendenzen im Zuge der staatlichen Konsolidierung zugenommen. Der Regierungswechsel von Präsident Putin zu Präsident Medvedev im März 2008 erfolgte durch interne und undurchsichtige Absprachen hinter den Mauern des Kremls. Die seit den Präsidentschaftswahlen 1996 zur medialen Farce verkommenen Wahlen hatten auf das Ergebnis keinen Einfluss. Laut repräsentativen Umfragen begegnet die große Mehrheit der Bevölkerung diesen Verhältnissen mit Zustimmung oder Gleichgültigkeit.
Unter der Prämisse, dass es für die Demokratie nicht nur auf formale politische Institutionen, sondern vor allem auch auf die gemeinschaftlichen Lebenserfahrungen der Bürger ankommt, untersucht der Aufsatz das sowjetgesellschaftliche Massenphänomen "blat" (dt. Vetternwirtschaft, Vitamin B). Hierbei geraten nicht-staatliche soziale Netzwerke in den Blickpunkt und es stellt sich die Frage, ob blat Ausdruck einer sowjetischen Zivilgesellschaft war, bzw. zur Produktion von "sozialem Kapital" beitragen konnte.