Die Felsstufen zuhinterst im Lötschental, hinter der Anenhütte im Dreieck zwischen dem Anen- und dem Langgletscher, bilden eine noch sehr urtümliche Landschaft, die Meter für Meter vom Eis freigegeben wird. Am Rand der Gletscher sind die Felsen noch weiss mit Sand und ausgetrocknetem Lehm bedeckt. Keine Spuren, weder von Menschen noch von Tieren oder Pflanzen: frischer, jungfräulicher Fels. Weniger Meter von diesem Frischland entfernt haben Wind und Wasser die Felsen schon sauber gefegt. Nur auf den Sätzen zwischen den abfallenden Felsen haben sich Land und Schutt angesammelt, und da sind auch schon die ersten Pflanzen und Käfer zu finden: Leimkraut mit seinen fetten Blättern, Rispengras und dazwischen wie hingetupft auf den trockenen Moosen diese kleinen Blüten in leuchtenden Blau und Gelb. Auch die ersten Edelrauten sind hier anzutreffen, der Genepi, das Schnapskraut der Bergler. Mit ihm veredeln sie sich den Selbstgebrannten und trinken ihn dann als Heilmittel gegen alles, was weh tut.
Ludwig Weh hat viele solche Landschaften gesucht und fotografiert. Und eigentlich bin ich hier heraufgekommen, um zu spüren, was diesen Bildern vorausgegangen ist, wovon sie Kunde geben.
Landschaften - so schreibt Myriam Stucky-Willa in einen ihrer Gedichte: Landschaften sind wir - einsame Inseln - zerklüftete Täler - Fallgut am Strand.
Landschaften, sei das eine Stadt, die Wüste, das Meer oder eben die Berge, prägen Menschen. Die Berge - so hat schon Goethe geschrieben - sind schweigsame Meister und schaffen stille Schüler.
Wir tragen aber auch eine Sehnsucht in uns nach Landschaften, in die wir wie nach Hause kommen - als wären sie ein Stück von uns.
Wer auszieht und versucht, Landschaften einzufangen, abzubilden, der sucht auf der Spur seiner Sehnsucht wohl auch sich selbst und gibt so Kunde vom Leben.
Auch Myriam Stucky-Willa ist mit ihren Gedichten der Sehnsucht auf der Spur. Und ob sie von den Sternen schreibt, den fernen, oder von den Meeren, den Bergen oder diesem geheimnisvollen «Du»: Seelenlandschaften sind sie alle, die Gedichte.
Landschaften machen Menschen. Menschen machen Landschaften. Menschen sind Landschaften. Was aber sind die Abbilder dieser Landschaften? Landschaften leben. Bilder und Gedichte sind Annäherungen, sich Versuche, sind Spuren der ewigen Lust, Leben zu schaffen.
Darum wohl haben Bilder und Gedichte eine so wundersame Kraft. Sie sind nicht nur schön. Sie geben auch Kunde von jenen, die aufgebrochen sind, ihr Leben und Werden in diesen Landschaften zu suchen. Sie zeugen auch von dieser Sehnsucht.
Und das ist das Starke an ihnen: Sie rufen.
Reinhard Eyer